China hat Wissenschaft und Technik vom Westen übernommen und ist damit in den letzten 40 Jahren zum Wirtschaftsgiganten geworden. Auch in umgekehrter Richtung fand ein mächtiger Wissenstransfer statt: Akupunktur, Qigong und verschiedene Körpertherapien sind mittlerweile fast schon Teil der westlichen Alltagskultur geworden. Nur die wirksamste, anspruchsvollste und umfangreichste Disziplin der TCM führt bei uns nach wie vor ein Schattendasein: die Behandlung mit chinesischen Heilkräutern auf Basis einer sorgfältig erhobenen individuellen Diagnose nach Prinzipien der TCM.
Es ist dem Wirken von Politikern wie Mao Zedong und Zhou Enlai zu verdanken, dass diese Kernkompetenz der chinesischen Medizin bald nach Gründung der chinesischen Republik 1949 auf ein neues Fundament gestellt wurde. Damals wurden 25 Universitäten für traditionelle Medizin im ganzen Land neu gegründet. Dem folgte der Aufbau zahlloser Kliniken für TCM teils als eigenständige Einrichtungen teils als Abteilung in einem westlich ausgerichteten Haus.
Dieser zweispurige Aufbau des chinesischen Gesundheitssystems bot einen großen Vorteil: Den Patienten stand für die Behandlung ihrer Krankheit das Wissen aus zwei Welten zur Verfügung. Welcher der beiden Behandlungsrichtungen im konkreten Fall der Vorzug gegeben wurde, das entschieden Arzt oder Patient ganz pragmatisch: Die Option mit der größeren Aussicht auf Erfolg wurde gewählt.
Gerade mit Virus-Infektionen tut sich die westliche „Schul“- Medizin eher schwer. Ihre Mittel sind teuer, nicht ungefährlich und oft wenig wirksam. Das gilt auch für Virus-Epidemien. Deshalb gelten diese seit alters als Domäne der traditionellen Medizin. Ihre Arzneipflanzen töten keine Viren (wie Antibiotika dies mit Bakterien tun sollen). Sie unterstützen vielmehr auf eine sehr spezifische Weise die Funktion des Immunsystems in den verschiedenen Stadien des Abwehrkampfes. Und welches Prozess-Stadium im Behandlungsfall aktuell vorliegt, das eruiert die traditionelle Diagnostik über verschiedene körperliche und psychovegetative Symptomen und wählt dann die jeweils gerade passende Pflanzen-Rezeptur.
Wird dies sorgfältig in der beschriebenen Weise praktiziert, dann bleiben Erfolge nicht aus.
So berichten jetzt die traditionellen Ärzte aus Wuhan über weniger schwere Verläufe und frühere Entlassungen aus der Klinik.
Wie beschrieben, verlangt die traditionelle Arzneitherapie, dass Rezepturen immer wieder an die individuelle Konstitution und den von Tag zu Tag wechselnden Zustand des Patienten angepasst werden. Deshalb war es unter den druckvollen Bedingungen der Epidemie-Behandlung in Wuhan kaum möglich, klinische Wirksamkeitsstudien nach dem üblichen Doppel-Blind-Schema durchzuführen.
So etwas ruft natürlich auch in China die streng westlich orientierten Mediziner auf den Plan, und gibt ihnen Gründe an die Hand, die Wirksamkeit der traditionelle Methoden in Frage zu stellen um sie irgendwann ganz aus den Krankenhäusern verbannen zu können. In diesem Konflikt (über den ein Chinese natürlich nichts nach außen dringen lässt) half wohl das Machtwort des Generalsekretärs und Präsidenten Xi Jinping, der bekanntlich den Wert der TCM zu schätzen weiß. Jedenfalls muss eine Kursänderung der Covid-19- Behandlung stattgefunden haben: Es wurden mehr TCM-Ärzte an die Betten gelassen. Dies spiegelt sich indirekt wider in den offiziellen Behandlungsrichtlinien:
Das erste ausführliche Richtlinien-Dokument der nationalen Gesundheitskommission zur Covid-19-Epidemie erschien am 16.1.2020. In dieser Richtlinie ist von TCM-Behandlung noch nicht die Rede. Es werden ausschließlich westliche Methoden genannt. Dann folgten in kurzen Abständen revidierte Fassungen, entsprechend dem im Verlauf der Epidemie zunehmenden Erkenntnisstand der beteiligten Fachleute. Bemerkenswerterweise nimmt mit zunehmender Erfahrung der Verfasser auch der Umfang der traditionellen Behandlungsempfehlungen von Version zu Version deutlich zu.
Auch die Anzahl der für die verschiedenen Erkrankungs-Stadien empfohlenen Pflanzenrezepturen wächst von Ausgabe zu Ausgabe. Bis zur Richtlinie Nr. 7 vom 3. 3. 2020 ist eine Zahl von über 20 Rezepturen erreicht. Ganz offensichtlich fanden in den jeweils aktualisierten Fassungen die ständig wachsenden Erkenntnisse der behandelnden Ärzte über die Verläufe unter den traditionellen Therapien ihren Niederschlag.
Die positiven Behandlungserfahrungen, die von den behandelnden Ärzten gemacht wurden, haben dazu geführt, dass von Januar bis März über 90 % der Covid-19 Patienten mit TCM-Pflanzenrezepturen behandelt wurden. Gleichzeitig wurden die TCM-Methoden unter dem Eindruck dieser Praxis-Erfahrungen kontinuierlich weiterentwickelt, und mit ausführlichen Erläuterungen in den jeweils überarbeiteten neuen Ausgaben der Behandlungsrichtlinien publiziert.